CfP: Sprache(n) und Grenze(n)/Sprachgrenzen: Übersetzen, Dialekt und Literatur, (literarische) Mehrsprachigkeit

Publié le 16. November 2022 Mis à jour le 16. Februar 2023
le 31. Januar 2023 Libellé inconnu
F417, Maison de la Recherche

Organisiert von Jasmin Berger, Geronimo Groh und Simone Lettner CREG (Centre de Recherches et d’Études Germaniques)

Bei dem Begriff der Grenze handelt es sich, wie die jüngeren politischen Ereignisse nun auch in Europa zeigen, um einen spannungs- und konfliktvollen Terminus von höchster Brisanz. Sowohl Grenzbestimmungen als auch Sprachgemeinschaften sind in der Lage, Orientierung zu bieten, Zugehörigkeit zu schaffen und Identität zu stiften (z.B. Kremnitz 1995). Eine zentrale Rolle kommt nicht zuletzt der Abgrenzung von Fremdem zu, denn Grenzen konstituieren gleichermaßen das Fremde und das Eigene, sie fungieren ebenso exklusions- wie inklusionsbildend und sind insofern geprägt von der Dualität von Einschränkung und Öffnung. Nur scheinbar, und das zeigen die Ereignisse im Osten Europas auf einer machtpolitischen Ebene derzeit wieder auf, nehmen Grenzen eine statische Ausprägung an – tatsächlich aber sind Grenzbildungen und damit diese konstituierende Faktoren wie Sprache und Kultur permanent Gegenstand dynamischer Aushandlungen. Diesbezüglich stellt sich die in die Literaturwissenschaft bereits eingegangene Frage nach Formen von Liminalität und der Bedeutung von Schwellen (vgl. die Reihe „Literalität und Liminalität“, 2007ff.), einem Terminus, den Walter Benjamin klar vom Begriff der Grenze abgegrenzt wissen wollte (Benjamin 1982 [1927–1940], S. 618), nicht zuletzt gerade für die Konturierung, Kontaminierung und Transgression von Grenzen. Der Umstand, dass Grenzen in Fluss geraten, sich auflösen oder verwischen können, ist als äußerst herausfordernd anzusehen, geht er doch meist mit Krisenphänomenen und Identitätsverlust einher. Literatur bietet hier in vielen Fällen einen Halt und ermöglicht ein Produktivwerden von Grenzen im Sinne einer Krisenüberwindung und der ästhetischen Gestaltung von Grenzüberschreitungserfahrungen.

Die geplante Journée d’Étude (Fachtagung) visiert einen internationalen und interdisziplinären Austausch an. Deutsch- und französischsprachige Beiträge, die unterschiedliche Aspekte von Sprachgrenzen aus literaturwissenschaftlicher, linguistischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive untersuchen, sind willkommen. Die Auseinandersetzung mit aktuellen soziopolitischen und sozioökonomischen Krisen und Debatten, insofern sie über Sprache und Literatur ausverhandelt werden, ist ebenso erwünscht wie eine Nutzbarmachung der grundlegend historischen Ausrichtung von Sprach-, Kultur- und Literaturwissenschaft, um das aktuell brisante Verhältnis von Sprache(n) und Grenze(n) im Hinblick auf Phänomene aus früheren Epochen zu perspektivieren. Eine Fokussierung auf bestimmte thematische Schwerpunkte scheint angesichts der Weitläufigkeit des Interessensbereichs von ‚Sprache und Grenzen‘ notwendig; daher wird um literatur-, sprach- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu folgenden Themenbereichen und mit ihnen zusammenhängenden Fragestellungen gebeten:

  • Übersetzungen (Translationswissenschaft, Kontrastive Linguistik, etc.)
  • Dialekt und Literatur
  • (literarische) Mehrsprachigkeit
 

Grenzen und Übersetzen

Das Übersetzen ist gleichermaßen eine elementare und hochspezialisierte Tätigkeit (vgl. z.B. Kaiser/Kern/Michler 2020) – der:die Übersetzer:in ist ebenso unverzichtbar wie auch oftmals unsichtbar – und es ist eine Grenztätigkeit per se, die Grenzen über-setzt und dadurch zwischen den jenseits der Grenze liegenden Bereichen vermittelt. Das Bild von Übersetzer:innen als Bot:innen (z.B. Kohlmayer 2018) lässt an den Götterboten Hermes und somit auch an die Her- meneutik denken, was anschaulich nahelegt, wie eng verknüpft die Arbeit des Übersetzens mit der Kunst des Verstehens ist. Doch Übersetzen ist nicht nur ein beflügeltes Über-Setzen von Grenzen, sondern oft genug selbst eine komplexe Grenzerfahrung. Das gilt gleichermaßen für Grenzen der Übersetzbarkeit angesichts translatorischer Spezialfälle wie auch für Grenzen der übersetzerischen Freiheit im Sinne einer „Ethik des Übersetzens“. Da es sich bei Letzterem um von außen auferlegte Grenzziehungen handelt, verbinden sich damit Überlegungen bezüglich der Kontrollinstanz: Nach welchen Kriterien und Vorgaben werden Übersetzungen bewertet und eingeschätzt? Wann ist eine Übersetzung ‚gut‘ und wer entscheidet das? Literaturüber-
setzungen bieten ihrerseits die besondere Herausforderung, die „sekundäre Struktur“ von literarischen Texten (nach J. Lotman) zu erkennen und in der Übersetzung zu bewahren (Stilmittel, Anspielungen, Mehrdeutigkeiten, …). Eine zusätzliche Schwierigkeit stellen dabei unterschied- liche kulturelle Konventionen dar, deren Eigenheiten jeweils zu berücksichtigen sind. Da eine Übersetzung stets semantische und lexikalische Abweichungen vom Originaltext mit sich bringt (traduttore – traditore), üben Übersetzer:innen und die Übersetzungssprache einen we- sentlichen Einfluss auf die Rezeption fremdländischer Literatur aus und können die Rolle eines Mittlers zwischen Kulturen übernehmen (Kulturtransfer; Espagne 1999). Im Kontext der Herausforderungen einer globalisierten Gegenwart bilden Übersetzungsfragen zudem etwa einen grundlegenden Bestandteil der internationalen Diplomatie, was auf die – stets präsente – politische Komponente des Sprachgebrauchs hinweist und eine Auslotung des Verhältnisses von Literatur, Übersetzungen und Politik erstrebenswert erscheinen lässt.


 

Dialekt und Literatur

Dialekt in der Literatur eröffnet einen eigenständigen Kunstsprachraum, der sich aufgrund von fehlenden Normierungen der Schreibweisen (z.B. Schlieben-Lange 1973) als freier und ent- grenzter zu gestalten scheint als der hochsprachliche Standard. Dialektliteratur beruht auf Im- provisation und ist gestaltete Kunstsprache (z.B. Meisenburg 1985).

Im Zuge einer Perspektivierung von Dialektliteratur drängt sich auch die Beleuchtung der Frage nach der Wertigkeit und des Prestiges auf (z.B. van Parijs 2013), die sich überhaupt meist mit komparativem Blick auf verschiedene (Literatur-)Sprachen ergibt. Dialekt und Standard so- wie verschiedene Dialekte untereinander werden demnach mit je differenten Bewertungskate- gorien in Verbindung gebracht (z.B. Ammon 1983). Auch befinden sich Dialekte in einer „Zwi- schenposition“ zwischen Standardsprache und Regionalsprachen (z.B. Braselmann 1999; Frie- bertshäuser 2004), letztere sind häufig sowohl politisch (z.B. durch die Europäische Charta für Regional- oder Minderheitensprachen, z.B. Lebsanft und Wingender 2012) als auch gesell- schaftlich (wesentlich aktivere Vereine zur Sprachförderung und zum Spracherhalt) besser ge- schützt und gefördert als Dialekte; nichtsdestotrotz sind beide Gattungen gefährdet (z.B. UNESCO 2010).

Die Hinterfragung von Adressat:innenbezug und Funktionsmechanismen erlaubt eine kritische Analyse der Rezeptionssituation (bzw. der Wechselwirkungen von Produktion und Rezeption) von Dialektwerken bzw. literarischen Werken, die dialektale Passagen enthalten. Der Einsatz von Dialekt bietet in der Literatur zahlreiche mögliche Funktionen (z.B. Ammon 2004), wie z.B. die Vermittlung von Realitätsnähe, Authentizität und/oder Lokalkolorit, die Illusion von Mündlichkeit, die Veranschaulichung von Machtverhältnissen, eine Kompensation zum normierten standardsprachlichen Literaturstil, die Sympathiegenerierung auf Seiten der Rezipient:innen sowie die Erzeugung eines Verfremdungseffekts oder von Komik. Das Lesen von im Dialekt verfassten Werken kann eine hohe Sprachkompetenz des Lesenden erfordern.

In historischer Perspektivierung lässt sich die Frage nach den Anfängen einer
(sprach-)bewussten Dialektliteratur stellen (z.B. Brundin 2004), während etwa grenzüberschreitende Dialekte und das Phänomen der Regionalsprachen als Sprachkontinuum jenseits von Staatsgrenzen eine raumzeitliche Untersuchungsdimension des Gegenstands ermöglichen. Des Weiteren kann die (früh-)neuzeitliche Standardisierung europäischer Idiome und deren Begleiterscheinungen wie Dialektaufgabe, Abbau von Regionalismen, Hyperkorrektur, Sprachpurismus und -separatismus (z.B. Breuer 1978) untersucht werden.

Die Thematik der ‚Grenze‘ (s. z.B. das Feld der Border Studies) fordert im Kontext von Dialektizität auch die Frage nach den Rollen heraus, welche die Zuschreibungen von Dialekt bzw. Nationalsprachen im soziopolitischen Rahmen übernehmen. Hier wäre etwa zu überlegen, wie sich staatliche Grenzen auf die Wahrnehmung und die Kategorisierung von Sprachgrenzen auswirken und was das für die Hervorbringung von (Dialekt-)Literatur bedeutet.
 

(Literarische) Mehrsprachigkeit

Angeregt durch Effekte der Globalisierung und Migration und in gewisser Weise auch der zu- nehmenden Technisierung und Digitalisierung, hat sich in jüngerer Zeit ein verstärktes For- schungsinteresse für den Bereich der (literarischen) Mehrsprachigkeit entwickelt. Publikatio- nen wie das Routledge Handbook of Literary Translingualism (2022) zeigen auf, dass der The- menkomplex zu einer festen Komponente wissenschaftlicher Reflexion geworden ist. Bei dem Phänomen der literarischen Mehrsprachigkeit selbst handelt es sich allerdings mitnichten um eine Neuerscheinung, sondern um ein Konzept mit weit zurückreichender Tradition – für man- che Regionen und spezifische Gesellschaftsschichten kann Mehrsprachigkeit sogar historisch lange Zeit als Regelfall betrachtet werden (vgl. Blum-Barth 2015, S. 11). Diverse historische Zusammenhänge können hier in den Fokus rücken, etwa die Frage nach dem sukzessiven Wan- del der dominierenden Wissenschafts- und internationalen Kommunikationssprachen (von La- tein zu Vulgär-/Nationalsprachen, vgl. Schmidt/Langner 2013, Martus 2018), nach der von Sprachgesellschaften und -akademien initiierten Sprachplanung und der institutionellen Ein- dämmung von Dia- und Regiolekten (Auswirkungen u.a. der Humboldt’schen Reform, vgl. Trabant 2012, und der Einführung der allgemeinen Schulpflicht) sowie nach dem Zusammen- spiel verschiedener Idiome in literarischen Texten aus jenen sensiblen Bereichen, in denen sprachliche Überlagerungen Alltagserfahrungen sind (Grenzregionen, Exil, Kronländer, Kolo- nien, sprachliche Minderheiten), um nur einige Beispiele herauszugreifen.

Sprachpolitische und sprachsoziologische Faktoren haben unmittelbare Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Sprecher:innen und Schriftsteller:innen: Sprachen müssen immer im Bezug zu jenen gesehen werden, die sie hervorbringen. In plurilingualen Kontexten sind die damit einhergehenden Identifikationsmöglichkeiten nicht einfach potenziert, sondern oft auch problematisiert (zu denken ist etwa an Jacques Derridas historisch-politisch gefassten „monolinguisme de l’autre“, Derrida 2016 [1994]). Den durch zunehmend plurilinguale Kontexte veränderten Lebensbedingungen des modernen Menschen wird in der Literatur und Literaturwissenschaft auch theoretisch Rechnung getragen, so von Elke Sturm-Trigonakis mit dem Konzept der „Neuen Weltliteratur“ (Sturm-Trigonakis 2007), deren Vorläufer bereits Goethes Weltliteratur (vgl. Lamping 2010) und Rabindranath Tagores Plädoyer für eine Weltliteratur auf Augenhöhe sind, das aber seinerseits, insbesondere in der angloamerikanischen Ausprägung der ‚World Literature‘, dem Vorwurf ausgesetzt ist, erneut Hegemonialstellungen zu produzieren (vgl. Apter 2013). Mehrsprachigkeit birgt ein hohes poetisches Potenzial in sich (vgl. Bürger-Koftis/Schweiger/Vlasta 2010), da literarische Kreativität und Innovation (z.B. Wortneuschöpfungen) gefördert und der Blick auf die Welt multiperspektivisch aufgefächert wird. Das parallele Jonglieren mit verschiedenen Sprachrepertoires stärkt die Sprachbewusstheit, wodurch der Sinn für die Poetizität der Sprache geweckt wird. Die Auseinandersetzung mit Grenzen kann sich in diesem Zusammenhang auch institutionellen Grenzsetzungen widmen, eine affirmative Haltung den Phänomenen der Mehrsprachigkeit gegenüber kann beispielsweise eine kritische Reflexion des Konzepts der Nationalphilologien leisten.
 

Die Journée d’Étude findet am Freitag, den 26. Mai 2023, in der Maison de la Recherche an der Universität Jean-Jaurès in Toulouse sowie online per Videokonferenz statt. Vortragssprachen sind Französisch und Deutsch. Die Redezeit pro Beitrag beträgt 20 Minuten mit einer anschließenden 10-minütigen Diskussion. Eine Publikation der Beiträge wird angestrebt.

Interessierte Doktorand:innen und kürzlich Promovierte sind herzlich eingeladen, bis zum

31. Januar 2023 ein Abstract (max. 5.000 Zeichen einschließlich Leerzeichen, exkl. Lite- ratur) sowie Angaben zu ihrer Person (max. 10 Zeilen) an folgende Adressen zu schicken:

jasmin.berger@univ-tlse2.fr, simone.lettner@univ-tlse2.fr, geronimo.groh@univ-tlse2.fr. Die Rückmeldung erfolgt bis zum 28. Februar 2023.

Reise- und Übernachtungskosten sind nicht im Budget des Forschungstages inbegriffen.



 

Organisationskomitee

  • Jasmin Berger (Hochschule Fulda - University of Applied Sciences/Universität Toulouse - Jean Jaurès, CREG), MA MA
  • Geronimo Groh (Universität Toulouse - Jean Jaurès, CREG), MA
  • Simone Lettner (Paris Lodron Universität Salzburg/Universität Toulouse - Jean Jaurès, CREG), MA BA

Wissenschaftliches Komitee

  • Prof. Dr. Matthias Klemm (Fulda Graduate Centre of Social Sciences, Hochschule Fulda)
  • Prof. Dr. Jacques Lajarrige (Universität Toulouse - Jean Jaurès, CREG)
  • Dr. habil. Hélène Leclerc (Universität Toulouse - Jean Jaurès, CREG)
  • Dr. Catherine Mazellier-Lajarrige (Universität Toulouse - Jean Jaurès, CREG)
  • Univ.-Prof. Dr. Werner Michler (Paris Lodron Universität Salzburg)
Partenaires :